Das Asperger-Syndrom bei Frauen

Frauen mit Asperger sind Raritäten unter Raritäten. Die medizinische Sicht basiert überwiegend auf dem männlichen Bild des Asperger-Syndroms, wodurch die Thematik bei Frauen weitestgehend unbekannt ist. Auch wenn sich die Bilder in ihrer Kernproblematik nicht unterscheiden, so zeigen Frauen ganz andere Auffälligkeiten. Es wird offiziell davon ausgegangen, dass sich ca. 1% der Bevölkerung innerhalb des Autismus-Spektrums befinden. Genaue Zahlen über die Häufigkeit bei Frauen und Männern gibt es nicht. Sie varriieren von einem Verhältnis von 1:2 bis 1:16. Wahrscheinlicher ist, dass das Verhältnis deutlich ausgewogener ist, betroffene Frauen und Mädchen allerdings nicht erkannt werden.

Mädchen und Frauen verfügen über bessere soziale Fähigkeiten. Sie lernen durch Beobachtung anderer und maskieren ihre Nachteile, um weniger aufzufallen. Das ist kein Geschenk, wenn sie dadurch unerkannt durchs Leben stolpern und ihnen eine Diagnose, sowie entsprechende Hilfe verwehrt bleiben. Die Einschränkungen und mangelnde Erkenntnis über die eigentlichen Schwächen, können zu einem massiven Verfall des Selbstwerts und komorbiden Störungen führen. Seien es Depressionen, soziale Ängste oder Persönlichkeitsstörungen. Die Liste möglicher, gravierender Folgen ist lang. So werden oft komorbide Störungen als Hauptursache für den Leidensdruck angsehen und die eigentliche Ursache, das Asperger-Syndrom, schlummert weiter im Verborgenen.

Es gibt keinen Autisten und keine Autistin zwei mal. Jeder ist anders! Aber es gibt Auffälligkeiten, die bei vielen Frauen mit Asperger zutreffen.

Ein Stammtisch nur mit weiblichen Aspergern wäre ein Horrorszenario für jeden Friseur oder Stylisten. Die Haare sind meist unordentlich, weil der Arbeitsaufwand für das, was von der Gesellschaft als schön angesehenen wird, immens hoch ist.

Ich habe schon mehrere als „pflegeleicht“ angepriesene Frisuren ausprobiert. Das war aber nichts für mich! Wenn ich sie nicht wenigstens in Form föhnte, sahen sie unmöglich aus. Während meiner Schulzeit war ich „die mit den Buff-Haaren.“ Ich ließ mir das mal erklären und „Buff“ steht in dem Fall für den Knall, wenn ich morgendlich in die Steckdose fasse und meine Haare statisch aufgeladen würden.

Heute habe ich sehr langes Haar und bin dankbar für die gute Grundsubstanz. Sie sind dick, zahlreich, leicht lockig und kaum splissanfällig. Ungefähr alle ein bis zwei Jahre gehe ich zum Friseur und schneide sie bei Bedarf selbst. Nach dem Waschen kämme ich sie einmal, lasse sie an der Luft trocknen und gehe bis zur nächsten Wäsche nur mit den Fingern und etwas Haaröl durch sie. Das erspart mir viel Zeit und sieht auf den ersten Blick ganz ordentlich aus. Wenn es zu durcheinander ist, mache ich mir kurz und schmerzlos einen stink normalen Pferdeschwanz oder sogar Dutt, wenn es besonders schlimm ist.

Asperger-Frauen bevorzugen bequeme Kleidung und gehen nicht gerne Shoppen. Wenn das äußere Erscheinungsbild an das Normalbild der Frau angepasst wurde, ist dies meist nur eine Maske, die von ihrer Trägerin viel Anstrengung abverlangt.

Bei Ereignissen, in denen es von mir erwartet wird, überarbeite ich mein Erscheinungsbild auch stark. Ich schminke mich, wähle meine Kleidung mit Bedacht aus und frisiere meine Haare stundenlang. Für eine solche Rundumanpassung benötige ich drei bis vier Stunden. Diese Zeit habe ich nicht immer und möchte sie eigentlich auch gar nicht dafür verschwenden. Meistens laufe ich ungeschminkt durch die Gegend und trage Kleidung, die besonders bequem ist. Leider sind die bequemsten Teile in den seltensten Fällen die „angesagten“, stilvollen Sachen.

Meine liebsten Kleidungsstücke trage ich teilweise schon seit einem Jahrzehnt oder länger und sortiere sie erst aus, wenn wirklich jede Hoffnung auf Reparatur verloren ist. In meinem Kleiderschrank sind einige Fälle unerklärlichem „Mitwachsens“ – die Sachen passten schon, als ich 20cm kleiner war und 20kg weniger wog. Ich gehe nur Shoppen, wenn ich etwas wirklich brauche. Dabei werden große und volle Läden von mir komplett ignoriert. Ich gehe am liebsten in kleine, sortierte Boutiquen, die abgelegen in einer versteckten Seitenstraße liegen.

Es fällt mir außerdem schwer, mich einem Anlass entsprechend zu kleiden. Meist bin ich under- oder overdressed.

Auffällig ist auch der Umgang mit Männern. Asperger-Frauen wirken oft naiv und unerfahren. Ein Flirt kann meist nicht als solcher erkannt werden. Doppeldeutigkeiten sind zu komplex und werden spontan nur auf eine Art verstanden. Das ist beispielsweise bei einem Flirt oder unterschwelligem Herantasten, ob sexuelles Interesse besteht, fatal. Mir wird manchmal nie, manchmal zu spät bewusst, wie falsch ich wahrgenommen wurde. Aus meiner Sicht rede ich mit jemandem über Gedanken und Empfindungen, um sich gegenseitig kennenzulernen. Erst nach einem intensiven Kennenlernen kommen bei mir eventuell Interessen an der anderen Person auf, die eine platonische Beziehung übersteigen. Kommen von meinem Gegenüber Doppeldeutigkeiten in Bezug auf mein Gesagtes, die sich beispielsweise auf Sex beziehen, erkenne ich darin nur die Aussage, die sich auf meine Sichtweise bezieht. Somit vollkommen ohne sexuelle Interessen. Also bestätige ich die Aussage oder verrenne mich sogar noch weiter, wenn mein Gegenüber nicht doppeldeutig gemeinte Äußerungen meinerseits falsch interpretiert. Diese „Naivität“ im Umgang mit anderen kann durchaus sehr gefährlich werden, wenn das Gegenüber böses vorhat.

Innerhalb einer Beziehung kann es bei erwachsenen Asperger Frauen zu Fehlern oder Reaktionen kommen, die von Teenagern erwartet werden. Die Beziehung zu einem Menschen ist ein kompliziertes Konstrukt, das viele Fettnäpfchen bereitstellt. Aus meiner Sicht kann ich voller Überzeugung sagen, dass Männer mindestens genauso kompliziert wie Frauen sind. Unbekannte Wesen, deren Denkweise ich wohl nie verstehen werde. Mir wird nachgesagt, „männlich“ zu denken und da ich zu anderen Frauen noch schlechter einen Draht finde, scheint es zu stimmen.

Meine partnerschaftlichen Beziehungen verliefen alle sehr ähnlich. Zuerst waren sie hin und weg von meiner „Andersartigkeit“, trugen mich auf Händen und verehrten mein Wesen. Wenn sie aber allmählich erkannten, dass zu meinen positiven Seiten auch negative gehören, schienen diese so abstoßend zu sein, dass die Gefühle schneller verflogen, als sie sich entwickelt hatten.

Asperger Mädchen und Frauen wirken oft sehr reif für ihr Alter. Das mag auf die Ebene des Denkens bei einigen zutreffen, zeichnet sich aber eher selten im Umgang mit anderen ab. Soziale Interaktionen sind meist unbeholfen, weil sie nicht richtig verstanden bzw. verarbeitet werden. So wird eine vermehrte „lange Leitung“ eher als dümmlich empfunden. Auf der anderen Seite können sie wegen ihrer zurückhaltenden, introvertierten Art und individuellen Bewältigungsstrategien für deutlich kompetenter gehalten werden, als sie es tatsächlich sind. Das führt zu einem höheren Anspruch an die Betroffene, die darunter zusätzlich leidet, weil sie dem nicht gerecht werden kann.

Anders als ihre männlichen Ensprechungen zeigen weibliche Aspies meist mehr Gesichtsausdrücke und Emotionen. Mehr Gesichtsausdrücke bzw. Emotionen bedeutet nicht, dass es die richtigen in angemessenem Maß sind. Mir wurde schon oft gesagt, dass ich viele Grimassen ziehe und mein Gesicht Karussell fährt. Angemessen auf eine Unterhaltung oder Situation zu reagieren, ist für mich sehr anstrengend. Es geschieht nicht intuitiv. Wenn es nach mir ginge, hätte ich abgesehen von ausgelebter Freude oder Trauer exakt einen weiteren: den neutralen Ausdruck. Das sind im Vergleich mit anderen zu wenig gezeigte Emotionen. Ich kenne beispielsweise den Reflex des Lächelns nicht. Lächeln muss von mir kontrolliert werden und zeigt sich dadurch manchmal in falschen Situationen oder zu über-/ untertrieben.

Viele Asperger Autistinnen zeigen männliche Züge. Das kann sich in einem androgynen Äußeren, dem Denken oder den Fähigkeiten widerspiegeln. Oft liegen Begabungen oder Interessen in typisch männlichen Bereichen vor. So nehmen sich einige Betroffene als halb männlich und halb weiblich wahr. Ich fühle mich mit Männern eher verbunden, als mit Frauen. Sie denken mir zu kompliziert und interessieren sich für Dinge, an die ich keinen Gedanken verschwende. Es ist mir egal, welches schreckliche Kleid Frau X., eine entfernte gemeinsame Bekannte, neulich beim Bäcker trug.

Ich sehe mich trotzdem als vollwertige Frau an. Mit meinen individuellen Eigenheiten, aber auch durchaus mit „typisch“ weiblichen Zügen.

Mangelndes Identitätsbewusstsein und enorme Wandelbarkeit sind ebenfalls bei vielen eine Gemeinsamkeit. Um weniger anzuecken, passte ich mein Auftreten weitestgehend dem an, was von mir erwartet wurde. Das führte zu vielen antrainierten Verhaltensweisen, die nicht meiner eigenen Persönlichkeit entsprechen. Irgendwann war ich an dem Punkt angekommen, dass ich mich so oft und vielfältig verändert hatte, dass ich nicht mehr wusste, wer ich eigentlich bin. Ich sah in meinem Verhalten viele Charaktere, aber nichts davon entsprach mir.

Ich habe unter anderem mein Lachen verloren. Es ist nicht so, dass ich nicht mehr lache, aber es entspricht nicht mehr der Art, wie es ursprünglich war. Es wurde oft negativ kritisiert und so passte ich es einem „normalen“ Niveau an. Heute ist mein Lachen unauffällig. Das Empfinden von Freude ist noch wie früher. Ich kann es nur nicht mehr auf meine angeborene, instinktive Weise zeigen.

Viele weibliche Aspies sind desorganisiert im Umgang mit alltäglichen Aufgaben. So kann das Kämmen oder Zähneputzen vergessen werden, die falschen Dinge eingepackt oder gar komplett liegen gelassen werden. Im Alltag bzw. bei routinierten Aufgaben schalte ich den Autopiloten ein. In dieser Zeit bin ich mit meinen Gedanken ganz woanders. Denke über verschiedenste Dinge nach und registriere nicht, was ich während dieser Zeit alles mache. Um es ganz krass auszudrücken: ich vergesse, dass ich hungrig oder satt bin. Wenn nichts essbares in meiner Nähe ist, bringt mich nichts auf die Idee, dass ich Hunger haben könnte. Manchmal kommt es vor, dass ich intensiv nachdenke, was und vor allem wann ich zuletzt etwas gegessen habe. Es kann durchaus passieren, dass es länger als einen Tag her ist. Steht etwas in meiner Nähe, bediene ich mich, um dann jedes Mal erneut festzustellen, dass ich doch schon vollkommen satt bin. Das führt bei mir zu starken Gewichtsschwankungen.

Ein großes Problem ist auch das Wiederfinden meines Schlüssels. Komme ich nach Hause, bin ich so sehr in Gedanken versunken, dass ich nicht registriere, dass ich ihn weglege, geschweige denn, wohin ich ihn lege. Mittlerweile kenne ich die meisten Orte, an denen er sein könnte. In jedem Raum gibt es verschiedene Punkte und es variiert je nachdem, was ich als erstes nach meiner Ankunft tat.

Im Berufsleben kann sich Asperger bei Frauen deutlich abzeichnen, indem sie vermehrt Fragen stellen. Sie wirken dabei keineswegs inkompetent. Ihre Fragen sind in der Regel berechtigt. Betrachtet man aber die Häufigkeit, wird es Auffälligkeiten im Vergleich mit Arbeitskollegen geben. Sie selbst wird sich als präzise wahrnehmen und denken, dass ihre Kollegen etwas denkfaul sind. In Wirklichkeit hat sie aber Probleme, Details aus Gesagtem zu filtern.

Anweisungen müssen bei mir so genau wie möglich sein. „Kopiere alle Seiten des Vertrags drei Mal in schwarz/ weiß und bring sie mir, sobald du sie fertig hast.“ Kommt hingegen nur ein „Kopiere den Vertrag drei Mal.“ beginnt das muntere Fragen: „Alle Seiten?“ – „Ja!“ – „In schwarz/ weiß oder Farbe?“ – „Schwarz/ weiß reicht!“ – „Möchtest du, dass ich die Kopien in dein Büro bringe, sobald sie fertig sind oder lege ich sie in dein Fach?“ – „Bring sie am besten direkt ins Büro.“

Es gibt viele potenzielle Fehlerquellen, die größtenteils schon durch genaue Anweisungen ausgeschlossen werden können. Erst jetzt, durch das Verständnis um meine Besonderheiten und verkannten Schwierigkeiten, erkenne ich, dass viele Dinge anderen nicht so wichtig sind, wie mir und umgekehrt. An meinem letzten Arbeitsplatz wurde mir öfter gesagt, dass ich nicht soviel nachdenken, sondern es einfach machen solle. Ich würde es ja „einfach machen“, wenn ich es nicht kompliziert verarbeiten müsste.

In manchen Fällen kommt es auch zu der Diagnose ADS/ ADHS, da sich beide Bilder sehr ähnlich sind. Ist eine solche Diagnose erst gestellt, wird es schwieriger für die Betroffene und andere zu erkennen, dass es nicht AD(H)S, sondern Asperger ist. In den Beschreibungen von AD(H)S können sie sich erkennen und glauben den Meinungen der „Experten“. Auffälligkeiten im Sozialverhalten sind bei beiden „Störungen“ offensichtlich. Bei Asperger, da die sozialen Regeln nicht verstanden und somit nicht vollständig verinnerlicht werden. Bei AD(H)S sind die Regeln des Umgangs miteinander bekannt, können aber wegen der erhöhten Impulsivität nicht immer entsprechend umgesetzt werden. Viele Autisten haben zusätzlich ADS/ ADHS. Bei Jungen bzw. Männern wird von 50% der Autisten ausgegangen, die von beidem betroffen sind.

Wenn du dich in der Beschreibung des Asperger-Syndroms bei Frauen erkennst, könnte es sein, dass du dich ebenfalls innerhalb des autistischen Spektrums befindest. Wir sind zahlreicher, als es von vielen „Experten“ angenommen wird!

Rückblickend betrachtet, kommt es mir so vor, als wäre ich erst jetzt aus einem andauernden Winterschlaf erwacht. Ich arbeite daran, von meinen Stärken zu profitieren und mein Leben so zu gestalten, wie es für mich und meine Eigenheiten nötig ist. In vielen Aspies schlummert großes Potenzial, das in unserer heutigen Gesellschaft scheinbar leider erst durch eine Diagnose entfesselt werden kann und den starken Leidensdruck lindert.

Bei den meisten großen Köpfen der Geschichte wird das Asperger-Syndrom vermutet. Wenn du selbst betroffen bist und noch am Anfang der Reise des Verständnisses stehst: Kopf hoch! Es ist sehr lohnenswert, sich mit der Thematik auseinander zu setzen, da es Möglichkeiten und Wege aufzeigt, die vorher undenkbar waren. Sobald das Verständnis über das eigene Handeln vorhanden ist, eröffnen sich viele Perspektiven, mit den Schwächen und Stärken des Aspergers umzugehen. Doch am wichtigsten ist es, Hilfe zu bekommen und sich nicht länger vor den eigenen Besonderheiten zu verstecken!

Das Asperger-Syndrom bei Frauen

11 Gedanken zu “Das Asperger-Syndrom bei Frauen

  1. sigrid von Graevenitz schreibt:

    hallo,
    lieben Dank das du uns deine Gedanken mitteilst.
    In vielem erkenn ich mich selbst wieder.
    Bei mir ist allerdings so , das ich tausend Gedanken im Kopf habe und Schwierigkeiten hab sie auf zu schreiben.
    Darum schätze ich deinen Beitrag sehr..:-)
    Lieben Gruß
    Sigrid

  2. Imke schreibt:

    Ein sehr gelungener Artikel. Einziger kleiner Kritikpunkt: gleich am Anfang, wo Du vom Zahlenverhältnis von autistischen Männern und autistischen Frauen schreibst, fände ich persönlich es schön, wenn die Möglichkeit erwähnt würde, dass die Quote in Wahrheit bei 1:1 liegen könnte und Mädchen und Frauen lediglich *wesentlich* seltener diagnostiziert werden. Ansonsten jedoch sehr schön. Ich finde mich in zu vielen Passagen wieder, um sie hier alle zu zitieren. Die „Frisurenproblematik“ etwa ist mir sehr vertraut, ebenso das, was Du über Kleidung und Schminke schreibst. Fälle unerklärlichen „Mitwachsens“ gibt es auch in meinem Kleiderschrank. Auch die Schwierigkeit, angemessene Kleidung zu „Anlässen“ zu finden, kenne ich. Ebenso wie die Probleme, zu flirten oder Flirtverhalten zu erkennen, die „Schusseligkeit“, oder Aufforderungen, nicht soviel zu fragen oder nachzudenken, sondern „einfach zu machen“ … Besonders die folgende Passage beschreibt ein aus meiner Sicht sehr wichtiges Phänomen, das häufig dazu führt, dass die Probleme autistischer Mädchen übersehen werden:

    „Asperger Mädchen und Frauen wirken oft sehr reif für ihr Alter. Das mag auf die Ebene des Denken bei einigen zutreffen, zeichnet sich aber eher selten im Umgang mit anderen ab. Soziale Interaktionen sind meist unbeholfen, weil sie nicht richtig verstanden bzw. verarbeitet werden. So wird eine vermehrte „lange Leitung“ eher als dümmlich empfunden. Auf der anderen Seite können sie wegen ihrer zurückhaltenden, introvertierten Art und individuellen Bewältigungsstrategien für deutlich kompetenter gehalten werden, als sie es tatsächlich sind. Das führt zu einem höheren Anspruch an die Betroffene, die darunter zusätzlich leidet, weil sie dem nicht gerecht werden kann.“
    Genau das entspricht meiner eigenen Erfahrung. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist meiner Ansicht nach die unterschiedliche Bewertung bestimmter Verhaltensweisen bei Jungen und Mädchen. Zurückhaltung und Nachgeben bei Konflikten etwas wird bei Mädchen zumeist als Zeichen überdurchschnittlicher sozialer Reife interpretiert, obwohl das Gegenteil der Fall sein kann. Darauf, dass das Kind schlicht nicht weiß, wie es sich effektiv wehren könnte, kommt zumeist niemand.

  3. Minzli schreibt:

    Danke für Deine Offenheit. Ich bin vor ein paar Wochen selbst darauf gekommen, dass ich Asperger haben könnte und kann mich in dem von Dir geschilderten sehr gut wiederfinden. Diverse Selbsttests haben meine Vermutung bestätigt, mein Umfeld reagiert darauf aber mit Zurückhaltung bis ABlehnung. Ich denke auch, dass es sehr viel mehr von uns gibt, als bisher vermutet wird.

  4. Endlich habe ich mal so vieles von dem, was ich bin, in einem Kontext zusammen aufgeschrieben gesehen. Ich bin sehr dankbar für deinen Text! Ich wäre bis vor kurzem gar nicht auf den Gedanken gekommen, vielleicht Asperger zu sein, da die sonstigen Beschreibungen in so vielen Punkten so gar nicht auf mich zu passen schienen. Gibt es Bücher über weibliche Asperger, v.a. wie kann man sich in den so vielen notwendigen sozialen Situationen helfen.

    1. Hallo Inga, es freut mich, dass ich dir mit dem Text helfen konnte. Meine Buchempfehlung ist Aspergirls von Rudy Simone. Meiner Meinung nach, bisher das beste Buch auf dem Markt. Wie man sich in den sozialen Situationen helfen kann, ist eine schwierige (und allgemeine) Frage und bei jedem anders. Gibt es bei dir in der Nähe eine Selbsthilfegruppe? Ich selbst besuche eine für ADS/ ADHS, weil es eine AS-Betroffenengruppe hier nicht gibt. Ansonsten hat es mir geholfen, mein eigenes Verhalten mal „von oben“ zu betrachten. Aus Sicht von „NTs“.

  5. Monika schreibt:

    Dieser Text ist nicht barrierefrei!

    Geschrieben von einer Asperger Autistin, löst dieser Artikel unterschiedliche Empfindungen bei mir aus, die meine Gedanken nur so zum Sprudeln bringen.
    Da ist zunächst die wohltuende Identifikation, die ich beim Durchlesen erfahre: Da ist mir jemand sehr, sehr ähnlich, auch wenn einige Details leicht verschieden, anders gereiht sind, entsprechen sie doch einem Grundmuster, das auf wunderbare Weise komplett mit meinem eigenen identisch sind. Da schreibt ein Mensch mit meiner Wellenlänge, einer, in dem ich mich spiegeln, an dem ich mich messen und sortieren kann. Das fühlt sich für mich so angenehm an, wie ein Tratschnachmittag mit der besten Freundin sich wohl für andere Frauen anfühlen muss (was für mich immer auch Arbeit, also anstrengend ist).
    Ein Aha und Gedanke jagd den/das nächste(n) und erscheint mir mit ausreichend erzählenswerten Erinnerungen und Erfahrungen aus meinem Leben, deren Muster ich dabei manchmal wieder einmal, manchmal zum ersten Mal durchscheinen sehe, so stark, dass ich sie problemlos flüssig und verständlich niederschreiben könnte. Wäre da nicht der Umstand, dass ich den Artikel noch nicht zuende gelesen habe.
    Das möchte ich eigentlich aber tuen, denn ich weiß, das unkommentiert der Eindruck entstehen könnte, ich sei „genauso“ wie die Autorin. Vielleicht würde das beim Leser Gefühle von Mitgefühl bis Abscheu hervorrufen, obwohl das auslösende Moment im Zweifel überhaupt nichts mit meiner reellen Persönlichkeit zu schaffen hat und wie bereits beschrieben lediglich einem gemeinsamen Grundmuster entspringt und vielleicht würde ich an anderer Stelle wiederum Respekt auslösen, den ich an dieser Stelle wirklich nicht verdient habe. Ich möchte halt nicht falsch wahrgenommen werden, davon hatte ich in diesem Leben sicher schon genug. Und sowieso muss im Leben alles seine Ordnung haben und interessante Artikel dieser Länge liest man aus Routine in einem Rutsch. So halte ich es jedenfalls und siehe da: Da ist er, der Autopilot!

    – Was für ein tolles Sinnbild, der Autopilot, der mir gerade eben erst die Schuppen von den Augen hat fallen und unzählige Routinen in meinem Alltag zutage treten lassen, von deren Existenz ich bis dato noch nichts geahnt, die ich aber immer spüren konnte hatte. Das allgemein vermittelte Bild, das solche Routinen vor allem bei Asperger Autisten in durchaus praktische Bahnen gelenkt erscheinen lässt, natürlich auch nur solchen, die neurologisch normgerechten Menschen als angemessen erscheinen. An dem Anspruch muss ich scheitern, wenn ich da nicht mehr als Tee trinken, Gassi gehen und waschen–zähneputzen und derlei anführen kann, wohl wissend, dass diese Routinen bei mir nicht mehr alle richtig funktionieren, weil mich so ein, zwei, drei schlimme Erlebnisse zu viel dann doch aus dem Trott gebracht haben gepaart mit wohlmeinenden Mitmenschen oder auch nachlässigen, die Zugang zu meinem privaten Bereich hatten und immer wieder mal gern meine oft von Außenstehenden nicht erkenn- bzw. nachvollziehbaren Regeln torpedierten, mir dadurch Barrieren in den Weg stellten. Der Preis für den Versuch von Realkontakten, den ich aber nicht missen möchte, sofern ich mich nicht mit Engelszungen und -geduld wahrscheinlich lebenslänglich darum bemühe, meinen Standpunkt zu vermitteln. Was für mich ebenso anstrengend wie unterm Strich bereichernd ist.
    Jedenfalls sind meine vielen Routinen einfach sehr eigenen, bequemen und meinen Wissensdurst betreffend ausgelegt. Artikel lese ich immer zuende. Punkt. Und Ihr könnt sicher sein, das habe ich auch spätestens dann getan, wenn ich unter diesem Beitrag hier auf absenden geklickt habe.-

    Der liebe Autopilot lässt mich einen Satz lesen, dann innehalten und die Worte fühlen, schmecken, riechen, die Botschaft hinter dem Fackt begreifen und die Erkenntnis auf meinen Schatz an Erfahrungen und Erinnerungen übertragen, mal zur Auffrischung, mal ganz neu und währenddessen tosen all die Ideen, was ich erzählen könnte, in aller Vielschichtigkeit und Tiefe durch den Kopf, dass ich schon Angst bekomme, sie niemals alle behalten zu können. Das frustriert mich total, denn ich habe jeden einzelnen, kleinen Gedanken als wertvoll empfunden, wohl wissend, dass jeder einzelne, kleine Gedanke der Muße bedarf, ihn in solche Worte zu kleiden, dass ich mich mit dem Ergebnis außerhalb meines Schneckenhauses auch dauerhaft wohlfühlen kann, wobei ich da sicher andere Kriterien habe, als man das von Durchschnuttsmenschen kennt, was wie alles im Leben eigene Vor- und Nachteile hat, die ich dann der Korrektheit halber auch nochmal überdenke, aber nicht unbedingt sklavisch umsetze. Nur wenn es mir sinnig erscheint. Zum Beispiel gestehe ich mir so manche Offenheit einfach nur deshalb zu, weil ich weiß, dass es entsprechenden Menschen, die mit sowas nicht können, faktisch unmöglich ist, meinen komprimierten Gedanken zu folgen
    Das braucht alles viel, viel Zeit, Ruhe, Konzentration, Imagination und eine Menge Fingerspitzengefühl. Und es ist anstrengend, aber auch sehr erhellend und hilfreich, da ich „unterwegs“ immer eine Menge Ideen entwickle, wie ich alles mögliche besser angehen könnte.Das ist richtig, richtig gut für mich! Das brauche ich!
    Aber gerade bekomme ich das in einer derartigen Fülle, dass ich immer wieder gezwungen werde. den Strom meiner Gedanken einfach nur dahinfließen zu lassen. ungenutzt und auf unbestimmte Zeit wieder entrückend in den unbewußten Teil meiner Gedanken, noch darauf wartend, in einprägende Bilder und dann Worte gekleidet zu werden, damit ich dauerhaft was davon habe. Aber das ist alles viel zu, viel zu, viel zu viel und ich spüre schmerzlichen Verlust.
    Ich fühle mich mit einem Mal schlecht, ich weiß nicht genau, wie ich es nennen soll. Traurig? Unter Druck? Überfordert? Ich bin mir sehr im Klaren darüber, dass ich, selbst wenn ich einfach beginne, das erstbeste aufzuschreiben, was mir so Erwähnenswertes durch den Kopf geht, das Gefühl des Verlusts habe, denn wenn ich einen Gedanken ausreichend umrissen habe, finde ich den Anschluß an den Rest nicht mehr, weil mir danach regelmäßig eher nach Ruhe ist. Bis ins Detail aufbereiten, ausbreiten, einbetten, ruhen lassen, damit es stark in mir werden kann. Mein Faden ist dann einfach zerrissen und bevor ich nochmal in Ruhe den Artikel ein zweites Mal lesen und weiter verarbeiten kann, richtet sich meine Aufmerksamkeit schon auf das nächste Aha, dass mir in irgendeinem Augenblick online oder im RL begegnet.
    Ich möchte alles sammeln, auflesen, verwerten, aber es ist einfach zu viel, was ich so sehr als verpasste Chance wahrnehme, dass ich mich schon bemühe, nicht mehr allzu viel Information an mich heran zu lassen, Seiten entlike, Menschen nicht mehr online folge und vieles mehr. Um runterzukommen, um mich zur Abwechslung auch mal entspannen zu können.

    Ich habe hart mit mir gerungen, ob ich diesen Artikel teile und ob und was ich dazu schreiben sollte oder lieber nicht oder vielleicht morgen (eine stets viel zu volle Schublade übrigens
    „wink“-Emoticon
    ), Und so habe ich mich, meine Gedanken heruntergebrochen, abgebrochen, mein innerer Aufpasser hat nur so getönt: „Stopp! Aus! Körbchen!“ Und solche Töne höre ich einfach nicht gern. Wer fährt schon gern andauernd mit angezogener Handbremse?
    In einer Welt, die nicht so sehr auf den großen Zusammenhang schauen würde, fühlte ich mich sicherlich weniger doll unter Druck gesetzt, alles haarklein auszudiffenzieren und abzugleichen, weil mein neuronormgerechtes Gegenüber sich einfach nicht auf das Muster konzentriert, dessen Übertragbarkeit mir wiederum geradzu ins Gesicht springt (unübersehbar erscheint). In so einer Welt wäre dieser Artikel ein tolles Geschenk und der Opener eines durchphilosophierten Wochenendes. Aber so, wie die Welt tickt, muss ich mich immer wieder auf den eigenen Schlauch stellen. Und dazu hat es jetzt gereicht, genau darüber zu berichten. So. wie diese Welt tickt, wäre es besser für mich, ein Artikel ginge tief in ein einzelnes Detail, einen kleinen Teilaspekt, über den ich mich in Ruhe ausbreiten, den ich zeitnah verarbeiten und den ich von den verschiedensten Perspektiven aus beleuchten könnte. Das wäre für mich der Inbegriff der Barrierefreiheit und Inklusion.

  6. Monika schreibt:

    Ups, ich bin eine Erklärung schuldig: Den oben stehenden Text habe ich für einen kleineren Kreis geschrieben, wollte ihn der Autorin aber ebenfalls nicht vorenthalten und für den Artikel danken!

  7. Mara schreibt:

    Ich bin verwirrt und doch froh, der Text beschreibt mich ohne dabei negativ zu wirken. Vielleicht bin ich ja doch nicht verrückt, sondern einfach nur ich. Danke…

  8. Anne schreibt:

    Vielen Dank für deinen Text. Ich erkenne mich in so Vielem wieder. Nachdem ich 49 Jahre lang das Gefühl hatte, allein auf diesem Planeten zu sein, helfen mir Bücher wie „Aspergirls“, eine tolle Therapeutin (die meines Aspie Sohnes) und Menschen wie du, zu mir zu verstehen, warum. Das tut gut!

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