Von Mythen und Vorurteilen – wie die Medien die Realität verfälschen

… und den Leidensdruck unnötig erhöhen

In den Medien wird regelmäßig über AD(H)S berichtet. Allerdings entspricht fast kein Beitrag der Realität. Meist wird ein Kritiker hinzugezogen, der die Existenz der AD(H)S in Frage stellt und sich negativ zum Stimulanzieneinsatz bei Kindern oder auch Erwachsenen äußert. In diesem Zusammenhang wird oft von Betäubungsmittelmissbrauch gesprochen. Die Erklärungsversuche, was AD(H)S überhaupt ist, werden von Außenstehenden mangelhaft recherchiert und sich gerne weit verbreiteter Stigmatisierungen bedient.
AD(H)S wird in der Medizin als psychische Störung eingestuft. Beschäftigt man sich etwas eingehender mit der Thematik, erkennt man schnell, dass es eine Anomalie des Stoffwechsels ist. Ich möchte hier nicht von einer Störung sprechen! Das muss erst bewiesen werden…
Die Glückshormone Dopamin, Serotonin und Noradrenalin werden vom Gehirn nicht auf übliche Weise verarbeitet. Ein zu schneller Abtransport dieser Hormone führt zu einem Mangel (abgesehen von Noradrenalin, welches bei der Hyperaktivität hoch dosiert ist). Es wurde nachgewiesen, dass bei Betroffenen von AD(H)S in den Hirnbereichen, die zuständig für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Motorik sind, mehr Dopamintransporter existieren. Diese Areale sind meist kleiner und weniger aktiv, als bei der Masse der neurotypischen Gehirne. AD(H)S-ler zeigen für Außenstehende oft merkwürdige Reaktionen auf Belohnungen oder Bestrafungen. Zudem ändern sie ihr Verhaltensmuster durch äußerliche Einflüsse nicht. Ein AD(H)S-ler lernt meist nur gering bis gar nicht aus Fehlern. Die Hirnregionen, die für Motivations- und Belohnungsverarbeitungen zuständig sind, weisen bei AD(H)S weniger Rezeptoren (Andockstationen) und Transporter auf. Diese Beeinträchtigung könnte erklären, warum AD(H)S-ler Probleme haben, nicht belohnende Aufgaben zu erledigen, an denen kein persönliches Interesse besteht. Beispielsweise die Aufmerksamkeit bei bestimmten Schulfächern zu halten, die keineswegs mit den persönlichen Fähigkeiten und Interessen übereinstimmen. Ebenfalls könnte es erklären, warum Erwachsene öfter zu Suchtmitteln greifen, um diesen Mangel an Belohnungen und Motivationssteuerung auszugleichen.
Serotonin hingegen ist zuständig für Entspannung. Ein Mangel kann zu Angststörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und innerer Unruhe führen. Noradrenalin ist ein Stresshormon und sorgt für gesteigerte Aktivität (beispielsweise in Gefahrensituationen/ Flucht).
Da bei AD(H)S-lern insbesondere diese drei Hormone, die unser Glücksempfinden steuern, betroffen sind, erklärt sich darin auch die erhöhte Gefahr, an Depressionen zu erkranken.

Durch die andere Verarbeitung des Körpers dieser Botenstoffe, werden weitere Bereiche und Hormone beeinflusst. Dopamin senkt beispielsweise den Prolaktinspiegel, einem Hormon, das zuständig für Empathie und Brutpflege ist. Bei einem Dopaminmangel herrscht also ein erhöhter Prolaktinspiegel und führt zu Sensibilität. AD(H)S-ler sind dafür bekannt, überaus empathisch und feinfühlig zu sein, ebenfalls ist meist eine starke familiäre Bindung und Hilfsbereitschaft vorhanden. Diese Symptome deuten nach meiner Ansicht nicht auf eine Krankheit hin, sondern einem wünschenswerten Zustand, der in unserer Gesellschaft leider Mangelware ist.

In Bezug zur Betäubungsmittelmissbrauchsdiskussion möchte ich an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass bei AD(H)S-lern oft eine paradoxe Wirkung auf bestimmte Arzneimittel besteht. Beruhigende Medikamente können aufputschen und Aufputschmittel beruhigen. Dies ist z.B. bei Narkosen oder lokalen Betäubungen der Fall. Ohne die zusätzliche Gabe von Methylphenidat kann es dazu kommen, dass Betroffene während einer OP aufwachen oder eine lokale Betäubung keinerlei Wirkung zeigt. Zudem führen Schlafmittel oft dazu, dass die Aktivität gesteigert wird.
Ich habe neulich einen RTL-Bericht gesehen, in dem eine Reporterin den Selbstversuch mit Ritalin wagte. Der betreuende Arzt dieses Experiments war ein bekennender AD(H)S-Gegner. Die Reporterin wollte verdeutlichen, welche verheerenden Wirkungen Methylphenidat bei Kindern hat. Da sie kein AD(H)S hat, wirkte das Medikament bei ihr nicht paradox. Sie bekam Herzrasen, stand unter Strom und konnte nicht mehr schlafen. Sie brach das Experiment frühzeitig ab. Mal ganz davon abgesehen, dass für diesen Bericht gegen mehrere Gesetze verstoßen wurde und dem betreuenden Arzt die Approbation entzogen gehört, führen solche Berichte dazu, die Meinung der Allgemeinheit in Bezug auf AD(H)S noch weiter in die falsche Richtung zu festigen. Ich möchte mir gar nicht erst vorstellen, wie viele Eltern nach dem Bericht an ihrer Entscheidung zweifelten, ihrem Kind Methylphenidat zu verabreichen. Meist haben sie diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen und erst als letzten Ausweg gewählt. Zudem haben sie mit enormem Gegenwind aus dem sozialen Umfeld zu kämpfen, wenn dieses erfährt, dass das Kind „unter Drogen gesetzt“ wird. Bisher habe ich in den öffentlichen Medien, die mehrere Millionen Leser/ Zuhörer erreichen, keinen Bericht über die Wirkung von Methylphenidat bei Betroffenen gesehen, der der Wahrheit entspricht. Vielleicht habe ich auch nicht gut genug danach gesucht. Die paradoxe Wirkung des eigentlichen Aufputschmittels wird verheimlicht oder gar nicht erst recherchiert.

Die Vorurteile bei AD(H)S sind immens. So wird nicht selten behauptet, dass es durch falsche Erziehung oder ungesunde Ernährung hervorgerufen wird. Es diene Eltern als Entschuldigung für gravierende Fehler im Umgang mit dem eigenen Kind. Betrachtet man die Häufigkeit von Betroffenen innerhalb einer Familie, wird schnell deutlich, dass es angeboren und genetisch bedingt ist. AD(H)S entsteht nicht erst mit den Erfahrungen, die gesammelt werden. Die Probleme hingegen, die damit einhergehen können, sind in den meisten Fällen gesellschaftlich bedingt. Ich arbeite momentan an einer Vorstellung einer Gemeinschaft, in der AD(H)S-ler die Norm sind. Wie wäre diese Welt? Ich bin mir sicher, sie wäre ein schönerer, friedlicherer Ort, der sich durch Vielfalt und Zusammenhalt auszeichnet.

Die eingefahrene Meinung der Gesellschaft in Bezug auf AD(H)S und die damit verbundene Ausgrenzung führt zu einem Teufelskreis. Betroffene verfügen über einen sehr stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das betrifft nicht nur die eigene Person, sondern gilt auch für andere, sogar unbekannte Personen. Beispielsweise Mitleid für von Naturkatastrophen geschädigte Menschen. Wenn auf der Welt etwas grausames geschieht, sei es Krieg oder eine andere Katastrophe, nimmt es mich oft so sehr mit, dass ich tagelang darauf verzichte Nachrichten zu sehen, weil ich das Leid nicht ertrage. Kurze Berichte zum Gedenken am Jahrestag bringen mich auch noch ein Jahrzehnt später zum weinen.

Was bedeutet es bei den falschen Ansichten über AD(H)S?
Bei falschen Anschuldigungen haben die meisten AD(H)S-ler einen starken Drang dazu, sich zu rechtfertigen, um die Schublade wieder verlassen zu können. Es ist ein Gefühl von Ohnmacht, für etwas verurteilt zu werden, das schlichtweg nicht der Wahrheit entspricht und nur auf mangelndes Einfühlungsvermögen zurückzuführen ist. Beträfe es nur Menschen, die nicht zu meinem sozialen Umfeld gehören, könnte ich damit vielleicht umgehen. Die Meinungen sind aber durch falsche Berichterstattungen so gefestigt, dass es selbst den Freundes- und Familienkreis betrifft. Ich war mein Leben lang im vollen Besitz meiner geistigen Fähigkeiten und in meinem Umfeld dafür bekannt, unkonventionell zu denken und Mauern zu überspringen, gegen die andere immer wieder rennen. Bei Problemen wurde oft mein Rat eingeholt und ich wurde für meine ungewöhnliche Art geschätzt. Welche Probleme mit diesen Besonderheiten einhergehen, haben viele nicht gesehen oder nicht „für voll“ genommen. Als ich mich und meinen Lebensweg durch die Thematik ADS immer besser verstand und auch positive Veränderungen erzielen konnte, ging ich damit offen um. Dadurch habe ich viel verloren, ich würde es dennoch wieder auf die gleiche Weise machen. An mir ist schließlich nichts peinliches oder gefährliches. Ich bin einfach nur anders und um freier leben zu können, muss mein Umfeld von meinen Einschränkungen erfahren. Es bringt mir nichts, mich scheinbar anzupassen, nur um akzeptiert zu werden. Dadurch entfremde ich mich von meiner eigenen Persönlichkeit und lebe in einem Konstrukt, das ein Leben bildet, welches von mir erwartet wird.
Ich erzählte den Personen davon, die mir wichtig waren und von denen ich dachte, dass sie mich kennen würden. Die meisten reagierten ängstlich oder abwehrend. Die wenigsten versuchten es, nach einer Art anfänglicher Schockstarre, zu verstehen. Auch heute, ein Jahr später, gibt es in meinem alten Umfeld niemanden, der es versteht. Nur zwei haben es akzeptiert und sehen mich noch immer, wie früher. Zum einen meine Mutter und zum anderen ein langjähriger Freund aus Jugendzeiten. Ich habe seit meiner Kindheit oft gehört, dass ich eine Gabe hätte, komplexe Dinge verständlich zu erklären. Wenn das zutrifft und ich mich darin von anderen unterscheide, wie ergeht es dann denen, die diese Fähigkeit nicht besitzen? Meine Bemühungen um Akzeptanz meines Verhaltens und meiner Besonderheiten waren bisher nur von geringem Erfolg. Recht früh kam bei mir die Frage auf, ob ich es dabei belassen sollte, dass ich mich verstehe und darüber schweige. Wenn ich aber mein Umfeld nicht meinen Bedürfnissen anpasse, sondern weiterhin versuche meine Bedürfnisse meinem Umfeld anzupassen, kann ich den Weg zum Glück nicht finden. Mittlerweile ist mir relativ egal geworden, was andere über mich denken. Ich weiß, wer ich bin und was mich auszeichnet! Es ist dennoch sehr schwierig, als Außenseiter behandelt zu werden.
Das spiegelt meine eigene Erfahrung wider, jedoch habe ich schon von vielen Betroffenen gehört bzw. gelesen, dass es ihnen ähnlich ergeht.
Vielleicht liegt auch darin der Grund für die einseitige Berichterstattung der Medien. Niemand trägt gerne einen Stempel! Sich öffentlich dazu zu bekennen und für Akzeptanz zu kämpfen, scheint in unserer Gesellschaft ein verlorener Kampf zu sein. Ich bin im Internet öfter darüber gestolpert, dass Interviews von Betroffenen so geschnitten wurden, dass sie in vollkommen falschem Licht ausgestrahlt wurden. Wer so etwas einmal erlebt hat, ist wohl kaum dazu geneigt, einen zweiten Versuch zu starten.
Momentan regt sich eine Art Aufstand von Forschern und Betroffenen, um AD(H)S endlich der Bevölkerung begreifbar zu machen. Ich denke, die nächsten Jahre dürften sehr interessant werden und darüber entscheiden, ob AD(H)S-ler weiterhin als krankhafte Infektion der Gesellschaft gelten oder zu deren Herzstücke werden. Denn die Bereicherungen, die ein AD(H)S-ler für eine Gemeinschaft und das Gemeinwohl bedeuten kann, übertreffen seine Schwächen um ein Vielfaches!

Zum Schluss lehne ich mich noch aus dem Fenster und behaupte, dass es in einer Gesellschaft, die sich auf die Bedürfnisse von AD(H)S-lern einstellt, in vielen Fällen nicht mehr nötig wäre, Methylphenidat zu verabreichen.

Von Mythen und Vorurteilen – wie die Medien die Realität verfälschen

3 Gedanken zu “Von Mythen und Vorurteilen – wie die Medien die Realität verfälschen

  1. Silke schreibt:

    Zitat: „Die eingefahrene Meinung der Gesellschaft in Bezug auf AD(H)S und die damit verbundene Ausgrenzung führt zu einem Teufelskreis. Betroffene verfügen über einen sehr stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das betrifft nicht nur die eigene Person, sondern gilt auch für andere, sogar unbekannte Personen. Beispielsweise Mitleid für von Naturkatastrophen geschädigte Menschen. Wenn auf der Welt etwas grausames geschieht, sei es Krieg oder eine andere Katastrophe, nimmt es mich oft so sehr mit, dass ich tagelang darauf verzichte Nachrichten zu sehen, weil ich das Leid nicht ertrage. Kurze Berichte zum Gedenken am Jahrestag bringen mich auch noch ein Jahrzehnt später zum weinen.“

    Was ist daran irgendwie nicht normal oder krank?? Mir geht es genauso, obwohl ich „normal“ (kommt auf die Sichtweise an 🙂 ) bin. Mein Schwiegersohn ist 2012 tödlich verunglückt, und ich weine immer noch um ihn. Ich weine auch bei Naturkatastrophen um die Menschen; wenn ich Fukushima sehe, steigen mir auch noch die Tränen in die Augen. Sogar bei 9/11, was ja nun schon viele Jahre her ist, habe ich jedes Mal einen Kloß im Hals. Ist doch „normal“!?

    Zitat: „Diese Beeinträchtigung könnte erklären, warum AD(H)S-ler Probleme haben, nicht belohnende Aufgaben zu erledigen, an denen kein persönliches Interesse besteht. Beispielsweise die Aufmerksamkeit bei bestimmten Schulfächern zu halten, die keineswegs mit den persönlichen Fähigkeiten und Interessen übereinstimmen.“

    In der Schule habe ich auch besser aufgepasst und hatte bessere Noten in Schulfächern, die mich interessiert haben. Ich kenne eigentlich keinen, bei dem das nicht so ist. Am Aufräumen besteht bei mir oft auch kein „persönliches Interesse“, ich setz mich manchmal lieber hin und les ein Buch. Ist das „krank“?

    Die Ausgrenzung geht oft von den Betroffenen selbst aus, indem sie einem immer wieder erklären wollen, dass sie ja „anders“ sind und man doch Verständnis aufbringen soll. Wofür? Ich hätte bei meiner Freundin nie bemerkt, dass sie AD(H)S hat – sie ist/war genauso normal bzw. bekloppt wie ich. Aber dieses „Herumreiten“ der Betroffenen auf dieser „Krankheit“ macht es glaube ich so kompliziert. Bei vielen würden wir es gar nicht merken. Warum muss da so ein Gewese drum gemacht werden? Sicher gibt es schwere Fälle, die auch medikamentös behandelt werden müssen. Das ist bei jeder Krankheit so, einer schafft das ohne Medis, andere brauchen starke Mittel dafür.

    Aber diese Belehrungen (auch ständiges Posten, Artikel schicken usw.), Rechtfertigungen und auch Beleidigungen („Das verstehst du ja eh nicht!“ – als wenn ich bissel doof wäre) zermürben die Beziehung/Freundschaft. Man mag ja jemanden wegen seiner Persönlichkeit, ob nun mit AD(H)S oder ohne. Muss denn dieses AD(H)S immer so in den Vordergrund gedrängt werden?

    Du scheinst ja „trotz oder wegen“ AD(H)S eine tolle Persönlichkeit zu haben. Was unterscheidet dich von mir? Nicht viel, außer die Diagnose AD(H)S. Das ist nicht schlechter, aber auch nicht besser als ich bzw. als die „Normalen“. Ich passe mich auch nicht an, um akzeptiert zu werden. Wer mich nicht mag, der kann mich mal. Ich muss nicht jedem gefallen. Brauche ich dazu die Diagnose AD(H)S? Nö. Also, locker bleiben und nicht immer gleich die Keule schwingen und sich erklären oder rechtfertigen wollen. Es gibt immer Menschen, die einen mögen, egal, ob „krank“ oder „normal“. LG Silke

    1. Hallo Silke,

      vielen Dank für deinen offenen Kommentar.
      Bezüglich Nachrichten und mitempfundener Trauer ziehen sehr viele nur den Informationsgehalt daraus. Vielleicht liegt es auch ein Stück weit an der Abstumpfung, da wir durch die Medien tagtäglich mit Leid konfrontiert werden. Ich wünsche mir manchmal etwas mehr Abstumpfung für mich, um Nachrichten mit einer gewissen Distanz sehen zu können. Betrifft die Trauer Menschen, die ich kenne, sei es nahestehend oder flüchtig, empfinde ich so sehr mit, dass ich teilweise handlunglungsunfähig werde und mein Alltag darunter leidet, weil ich mich zurückziehe, um es zu verarbeiten. Ich kann nicht genau sagen, ob es am ADS oder am Autismus liegt.
      Ich bin kein Fan davon, AD(H)S als Krankheit zu sehen. Es ist eine Variante der Persönlichkeitsentwicklung und insbesondere Sensibilität/ Empathie hat für mich keinen pathologischen Wert, sondern menschlichen.

      Natürlich hat jeder seine eigenen Stärken und es zeigt sich in den Noten. Ich rede nicht von leichteren Defiziten, sondern gravierenden Einschränkungen. Bei mir war es so, dass ich in besonders komplexen Themen im naturwissenschaftlichen Bereich hervorragende Noten hatte (bis hin zu Klassenbeste). Kam aber ein Thema, das mich nicht sonderlich interessierte, sackten meine Noten in den versetzungsgefährdenden Bereich ab. Nicht, weil ich nichts für das Fach getan hätte, sondern weil ich es nicht richtig lernen konnte. Es gehörte zu meinem schulischen Alltag, dass ich durchschnittlich in vier Fächern abgemahnt wurde. Mal mehr, mal weniger. Um das auszugleichen, blieb mir kaum Freizeit. Dennoch schaffte ich die Versetzung jedes Mal. In den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern war meine Konzentration so miserabel, dass ich nichts mitbekam, obwohl ich versuchte mich darauf zu fokussieren. Wenn die Lehrer einen Vortrag hielten, klebte ich teilweise so sehr an ihren Lippen, dass ich irgendwann nur noch den Mund wahrnahm. Alles andere um mich herum und die Worte, die gesagt wurden, konnten nicht von mir verarbeitet werden.

      Dass die Ausgrenzung nur von Betroffenen ausgeht, kann ich nicht bestätigen. Manchmal mag das zutreffen, besonders wenn der Hyperfokus auf dem Krankheitsbild ADS/ ADHS liegt. Ich wusste 25 Jahre lang nichts davon, sah mich als normal an und dennoch wusste ich, dass ich anders bin. Ich kam aber nicht darauf, worin ich mich von anderen unterscheide. Außerdem war ich sehr still und erzählte niemandem von meinen Problemen. Meine Einschränkungen versuchte ich aus eigener Kraft auszugleichen. Meine Probleme blieben bei mir und ich wollte damit keinen belasten bzw. wusste auch gar nicht, wie ich es begreifbar machen sollte, da ich es selbst nicht verstand. Und dennoch oder vielleicht auch deswegen, war ich das perfekte Opfer für meine Mitschüler. Wenn ich sage, dass meine Schulzeit eine Tortur war, ist das noch untertrieben! Nach der Schule, in der Welt der Erwachsenen, änderte sich daran nicht viel. Die Anfeindungen sind vielleicht nicht mehr so offensichtlich, dafür tiefgreifender.
      Ich möchte außerdem von meiner letzten Partnerschaft berichten. Wir waren fast drei Jahre zusammen, als bei mir der Verdacht ADS aufkam. Da es in der Beziehung oft ordentlich gescheppert hat, war es mir wichtig, dass er versteht, welche Einschränkungen damit verbunden sind und WARUM ich manchmal unverständlich reagiere. Als ich das Gefühl hatte, er hat es verstanden (er las sehr viel zu dem Thema), war die Sache für mich „gegessen“. Er hingegen hat es sich nicht nehmen lassen, in sämtlichen Situationen darauf hinzuweisen, dass meine Reaktion mal wieder vom ADS herrühre. Er stellte damit meinen freien Willen, meine Persönlichkeit in Frage. Damit konnte ich irgendwann nicht mehr umgehen und die Trennung folgte.

      Es ist schwierig, den Leidensdruck und die Zusammenhänge nicht Betroffenen begreifbar zu machen. Ich denke, wirklich verstehen kann es ein Außenstehender nur bedingt. Mit der Zusammenfassung der Probleme als AD(H)S haben Betroffene ein Gerüst zur Hand, das es anderen etwas verständlicher macht. Wenn aber ein falsches Bild in den Köpfen ist, bringt auch diese Hilfestellung nichts. Beispielsweise ein Querschnittsgelähmter muss seine Einschränkungen nicht erklären. Sie sind für alle sichtbar.
      Man darf auch nicht außer Acht lassen, welche Befreiung für Betroffene mit der Diagnose einhergeht. Im Laufe der Jahre habe ich enorme Selbstzweifel entwickelt. Hielt mich selber schon für dumm, unfähig und zu zimperlich. Mit dem Wissen um ADS bekam mein gesamtes bisheriges Leben einen anderen Sinn. Ich spürte meine Erfahrungen neu und auf eine andere Weise. Ich war nicht mehr traurig darüber, was mir passiert ist, sondern ich war traurig darüber, dass ich so sehr darunter litt, weil mir das Wissen fehlte. Ich sah mich nicht mehr als schwach, sondern entwickelte Selbstliebe durch die Stärke, die ich aufbrachte, um immer wieder die Hürden zu bewältigen, die mir in den Weg gelegt wurden.
      Bezüglich deiner Aussage, ob eine Diagnose nötig ist, um sich nicht anzupassen, damit man akzeptiert wird, kann ich in meinem Fall mit einem eindeutigen Ja antworten. Erst durch die Diagnose und dem damit einhergehenden Verständnis meines eigenen Verhaltens, konnte ich genügend Selbstbewusstsein aufbauen, um zu mir selbst zu stehen.

      Was deine Freundin betrifft, kann ich dir leider nicht helfen. Ich selbst habe meinen Hyperfokus ebenfalls auf AD(H)S (und Autismus) liegen. Gerne würde ich das besser kontrollieren können und mal einfach den Mund halten. Aber bisher ist es noch nicht möglich. Dafür ist das Thema noch zu neu, interessant und aufregend. Ich vermute mal, dass deine Freundin ihre Diagnose auch erst innerhalb der letzten Jahre erhalten hat und es für sie ebenfalls noch „neu“ ist.

      Lieben Gruß,
      Carina

  2. Silke schreibt:

    Liebe Carina,

    konnte nur mal kurz drüberlesen, weil ich auf Arbeit bin. Ich werde es mir noch mal in Ruhe durchlesen und mir Gedanken machen. Vielen Dank aber erstmal für deine offenen Worte. Vielleicht komme ich dem Verständnis etwas näher. Aber viele Dinge, die als „krank“ angesehen (ja, von wem eigentlich???) werden, finde ich total normal. Ich hab ja gestern selbst auch sehr impulsiv (über-)reagiert, als ich dachte, der Artikel wurde einfach gelöscht. Vielleicht stimmt in meinem Kopf auch was nicht? Eigentlich bin ich ja eher auch ruhig und überlegt, manchmal „hauts“ halt durch. Macht aber nix, ist halt so 🙂

    Für meine Freundin erwarte ich gar keine Hilfe von dir, ich wollte eigentlich damit nur sagen, dass es keiner (also ich nicht – und ich hab eine gute Menschenkenntnis) bemerkt hätte, dass sie AD(H)S hat. Ich mochte sie doch so oder so (oder vielleicht sogar wegen ihrer Macken). Wenn sie und auch du diese Diagnose brauchen, um zu wissen, was mit euch los ist, ist das ja in Ordnung. Aber warum um Himmels willen muss das jeder erfahren? Die Diagnose ändert doch nichts an der Person, verunsichert aber dann das Umfeld – eigentlich grundlos. Weil – es ändert doch trotzdem nichts an eurer Persönlichkeit. Entweder man mag dich oder nicht. Es wird doch keiner sagen: die mag ich jetzt nicht mehr, weil sie AD(H)S hat? Wenn das einer sagen würde, dann würde ich ihm aber die größte Macke bescheinigen.

    Eins noch: Ich glaube, Männer werden uns nie ganz verstehen, egal ob Frau „normal“ ist oder nicht 🙂

    So, jetzt bin ich doch wieder ziemlich abgedriftet von meiner Arbeit. Ich muss jetzt mal wieder an die Arbeit.

    Danke nochmal für deine „Einblicke“.

    Vielleicht hört man sich nochmal! Liebe Grüße

    Silke

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