Von Mythen und Vorurteilen – wie die Medien die Realität verfälschen

… und den Leidensdruck unnötig erhöhen

In den Medien wird regelmäßig über AD(H)S berichtet. Allerdings entspricht fast kein Beitrag der Realität. Meist wird ein Kritiker hinzugezogen, der die Existenz der AD(H)S in Frage stellt und sich negativ zum Stimulanzieneinsatz bei Kindern oder auch Erwachsenen äußert. In diesem Zusammenhang wird oft von Betäubungsmittelmissbrauch gesprochen. Die Erklärungsversuche, was AD(H)S überhaupt ist, werden von Außenstehenden mangelhaft recherchiert und sich gerne weit verbreiteter Stigmatisierungen bedient.
AD(H)S wird in der Medizin als psychische Störung eingestuft. Beschäftigt man sich etwas eingehender mit der Thematik, erkennt man schnell, dass es eine Anomalie des Stoffwechsels ist. Ich möchte hier nicht von einer Störung sprechen! Das muss erst bewiesen werden…
Die Glückshormone Dopamin, Serotonin und Noradrenalin werden vom Gehirn nicht auf übliche Weise verarbeitet. Ein zu schneller Abtransport dieser Hormone führt zu einem Mangel (abgesehen von Noradrenalin, welches bei der Hyperaktivität hoch dosiert ist). Es wurde nachgewiesen, dass bei Betroffenen von AD(H)S in den Hirnbereichen, die zuständig für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Motorik sind, mehr Dopamintransporter existieren. Diese Areale sind meist kleiner und weniger aktiv, als bei der Masse der neurotypischen Gehirne. AD(H)S-ler zeigen für Außenstehende oft merkwürdige Reaktionen auf Belohnungen oder Bestrafungen. Zudem ändern sie ihr Verhaltensmuster durch äußerliche Einflüsse nicht. Ein AD(H)S-ler lernt meist nur gering bis gar nicht aus Fehlern. Die Hirnregionen, die für Motivations- und Belohnungsverarbeitungen zuständig sind, weisen bei AD(H)S weniger Rezeptoren (Andockstationen) und Transporter auf. Diese Beeinträchtigung könnte erklären, warum AD(H)S-ler Probleme haben, nicht belohnende Aufgaben zu erledigen, an denen kein persönliches Interesse besteht. Beispielsweise die Aufmerksamkeit bei bestimmten Schulfächern zu halten, die keineswegs mit den persönlichen Fähigkeiten und Interessen übereinstimmen. Ebenfalls könnte es erklären, warum Erwachsene öfter zu Suchtmitteln greifen, um diesen Mangel an Belohnungen und Motivationssteuerung auszugleichen.
Serotonin hingegen ist zuständig für Entspannung. Ein Mangel kann zu Angststörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und innerer Unruhe führen. Noradrenalin ist ein Stresshormon und sorgt für gesteigerte Aktivität (beispielsweise in Gefahrensituationen/ Flucht).
Da bei AD(H)S-lern insbesondere diese drei Hormone, die unser Glücksempfinden steuern, betroffen sind, erklärt sich darin auch die erhöhte Gefahr, an Depressionen zu erkranken.

Durch die andere Verarbeitung des Körpers dieser Botenstoffe, werden weitere Bereiche und Hormone beeinflusst. Dopamin senkt beispielsweise den Prolaktinspiegel, einem Hormon, das zuständig für Empathie und Brutpflege ist. Bei einem Dopaminmangel herrscht also ein erhöhter Prolaktinspiegel und führt zu Sensibilität. AD(H)S-ler sind dafür bekannt, überaus empathisch und feinfühlig zu sein, ebenfalls ist meist eine starke familiäre Bindung und Hilfsbereitschaft vorhanden. Diese Symptome deuten nach meiner Ansicht nicht auf eine Krankheit hin, sondern einem wünschenswerten Zustand, der in unserer Gesellschaft leider Mangelware ist.

In Bezug zur Betäubungsmittelmissbrauchsdiskussion möchte ich an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass bei AD(H)S-lern oft eine paradoxe Wirkung auf bestimmte Arzneimittel besteht. Beruhigende Medikamente können aufputschen und Aufputschmittel beruhigen. Dies ist z.B. bei Narkosen oder lokalen Betäubungen der Fall. Ohne die zusätzliche Gabe von Methylphenidat kann es dazu kommen, dass Betroffene während einer OP aufwachen oder eine lokale Betäubung keinerlei Wirkung zeigt. Zudem führen Schlafmittel oft dazu, dass die Aktivität gesteigert wird.
Ich habe neulich einen RTL-Bericht gesehen, in dem eine Reporterin den Selbstversuch mit Ritalin wagte. Der betreuende Arzt dieses Experiments war ein bekennender AD(H)S-Gegner. Die Reporterin wollte verdeutlichen, welche verheerenden Wirkungen Methylphenidat bei Kindern hat. Da sie kein AD(H)S hat, wirkte das Medikament bei ihr nicht paradox. Sie bekam Herzrasen, stand unter Strom und konnte nicht mehr schlafen. Sie brach das Experiment frühzeitig ab. Mal ganz davon abgesehen, dass für diesen Bericht gegen mehrere Gesetze verstoßen wurde und dem betreuenden Arzt die Approbation entzogen gehört, führen solche Berichte dazu, die Meinung der Allgemeinheit in Bezug auf AD(H)S noch weiter in die falsche Richtung zu festigen. Ich möchte mir gar nicht erst vorstellen, wie viele Eltern nach dem Bericht an ihrer Entscheidung zweifelten, ihrem Kind Methylphenidat zu verabreichen. Meist haben sie diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen und erst als letzten Ausweg gewählt. Zudem haben sie mit enormem Gegenwind aus dem sozialen Umfeld zu kämpfen, wenn dieses erfährt, dass das Kind „unter Drogen gesetzt“ wird. Bisher habe ich in den öffentlichen Medien, die mehrere Millionen Leser/ Zuhörer erreichen, keinen Bericht über die Wirkung von Methylphenidat bei Betroffenen gesehen, der der Wahrheit entspricht. Vielleicht habe ich auch nicht gut genug danach gesucht. Die paradoxe Wirkung des eigentlichen Aufputschmittels wird verheimlicht oder gar nicht erst recherchiert.

Die Vorurteile bei AD(H)S sind immens. So wird nicht selten behauptet, dass es durch falsche Erziehung oder ungesunde Ernährung hervorgerufen wird. Es diene Eltern als Entschuldigung für gravierende Fehler im Umgang mit dem eigenen Kind. Betrachtet man die Häufigkeit von Betroffenen innerhalb einer Familie, wird schnell deutlich, dass es angeboren und genetisch bedingt ist. AD(H)S entsteht nicht erst mit den Erfahrungen, die gesammelt werden. Die Probleme hingegen, die damit einhergehen können, sind in den meisten Fällen gesellschaftlich bedingt. Ich arbeite momentan an einer Vorstellung einer Gemeinschaft, in der AD(H)S-ler die Norm sind. Wie wäre diese Welt? Ich bin mir sicher, sie wäre ein schönerer, friedlicherer Ort, der sich durch Vielfalt und Zusammenhalt auszeichnet.

Die eingefahrene Meinung der Gesellschaft in Bezug auf AD(H)S und die damit verbundene Ausgrenzung führt zu einem Teufelskreis. Betroffene verfügen über einen sehr stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das betrifft nicht nur die eigene Person, sondern gilt auch für andere, sogar unbekannte Personen. Beispielsweise Mitleid für von Naturkatastrophen geschädigte Menschen. Wenn auf der Welt etwas grausames geschieht, sei es Krieg oder eine andere Katastrophe, nimmt es mich oft so sehr mit, dass ich tagelang darauf verzichte Nachrichten zu sehen, weil ich das Leid nicht ertrage. Kurze Berichte zum Gedenken am Jahrestag bringen mich auch noch ein Jahrzehnt später zum weinen.

Was bedeutet es bei den falschen Ansichten über AD(H)S?
Bei falschen Anschuldigungen haben die meisten AD(H)S-ler einen starken Drang dazu, sich zu rechtfertigen, um die Schublade wieder verlassen zu können. Es ist ein Gefühl von Ohnmacht, für etwas verurteilt zu werden, das schlichtweg nicht der Wahrheit entspricht und nur auf mangelndes Einfühlungsvermögen zurückzuführen ist. Beträfe es nur Menschen, die nicht zu meinem sozialen Umfeld gehören, könnte ich damit vielleicht umgehen. Die Meinungen sind aber durch falsche Berichterstattungen so gefestigt, dass es selbst den Freundes- und Familienkreis betrifft. Ich war mein Leben lang im vollen Besitz meiner geistigen Fähigkeiten und in meinem Umfeld dafür bekannt, unkonventionell zu denken und Mauern zu überspringen, gegen die andere immer wieder rennen. Bei Problemen wurde oft mein Rat eingeholt und ich wurde für meine ungewöhnliche Art geschätzt. Welche Probleme mit diesen Besonderheiten einhergehen, haben viele nicht gesehen oder nicht „für voll“ genommen. Als ich mich und meinen Lebensweg durch die Thematik ADS immer besser verstand und auch positive Veränderungen erzielen konnte, ging ich damit offen um. Dadurch habe ich viel verloren, ich würde es dennoch wieder auf die gleiche Weise machen. An mir ist schließlich nichts peinliches oder gefährliches. Ich bin einfach nur anders und um freier leben zu können, muss mein Umfeld von meinen Einschränkungen erfahren. Es bringt mir nichts, mich scheinbar anzupassen, nur um akzeptiert zu werden. Dadurch entfremde ich mich von meiner eigenen Persönlichkeit und lebe in einem Konstrukt, das ein Leben bildet, welches von mir erwartet wird.
Ich erzählte den Personen davon, die mir wichtig waren und von denen ich dachte, dass sie mich kennen würden. Die meisten reagierten ängstlich oder abwehrend. Die wenigsten versuchten es, nach einer Art anfänglicher Schockstarre, zu verstehen. Auch heute, ein Jahr später, gibt es in meinem alten Umfeld niemanden, der es versteht. Nur zwei haben es akzeptiert und sehen mich noch immer, wie früher. Zum einen meine Mutter und zum anderen ein langjähriger Freund aus Jugendzeiten. Ich habe seit meiner Kindheit oft gehört, dass ich eine Gabe hätte, komplexe Dinge verständlich zu erklären. Wenn das zutrifft und ich mich darin von anderen unterscheide, wie ergeht es dann denen, die diese Fähigkeit nicht besitzen? Meine Bemühungen um Akzeptanz meines Verhaltens und meiner Besonderheiten waren bisher nur von geringem Erfolg. Recht früh kam bei mir die Frage auf, ob ich es dabei belassen sollte, dass ich mich verstehe und darüber schweige. Wenn ich aber mein Umfeld nicht meinen Bedürfnissen anpasse, sondern weiterhin versuche meine Bedürfnisse meinem Umfeld anzupassen, kann ich den Weg zum Glück nicht finden. Mittlerweile ist mir relativ egal geworden, was andere über mich denken. Ich weiß, wer ich bin und was mich auszeichnet! Es ist dennoch sehr schwierig, als Außenseiter behandelt zu werden.
Das spiegelt meine eigene Erfahrung wider, jedoch habe ich schon von vielen Betroffenen gehört bzw. gelesen, dass es ihnen ähnlich ergeht.
Vielleicht liegt auch darin der Grund für die einseitige Berichterstattung der Medien. Niemand trägt gerne einen Stempel! Sich öffentlich dazu zu bekennen und für Akzeptanz zu kämpfen, scheint in unserer Gesellschaft ein verlorener Kampf zu sein. Ich bin im Internet öfter darüber gestolpert, dass Interviews von Betroffenen so geschnitten wurden, dass sie in vollkommen falschem Licht ausgestrahlt wurden. Wer so etwas einmal erlebt hat, ist wohl kaum dazu geneigt, einen zweiten Versuch zu starten.
Momentan regt sich eine Art Aufstand von Forschern und Betroffenen, um AD(H)S endlich der Bevölkerung begreifbar zu machen. Ich denke, die nächsten Jahre dürften sehr interessant werden und darüber entscheiden, ob AD(H)S-ler weiterhin als krankhafte Infektion der Gesellschaft gelten oder zu deren Herzstücke werden. Denn die Bereicherungen, die ein AD(H)S-ler für eine Gemeinschaft und das Gemeinwohl bedeuten kann, übertreffen seine Schwächen um ein Vielfaches!

Zum Schluss lehne ich mich noch aus dem Fenster und behaupte, dass es in einer Gesellschaft, die sich auf die Bedürfnisse von AD(H)S-lern einstellt, in vielen Fällen nicht mehr nötig wäre, Methylphenidat zu verabreichen.

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