Reanimation von Gedankencocktails

Ich habe diese Seite vernachlässigt und letztlich zurückgelassen, weil sich meine Gefühle zum Thema veränderten und ich in eine Schreibblockade schlitterte. Es war/ ist ein Blog über Autismus, doch hat sich meine Sichtweise auf darauf verschoben. Ich erlebe es tagtäglich, welche Schwierigkeiten und Tücken ein Leben mit Autismus bringt. Ich kämpfe jeden Tag mit mir, meinem Alltag, meinen Problemen, meinem Umfeld.

Ich kann nur über die Dinge schreiben, für die ich brenne – dabei ist es mir wichtig, authentisch zu bleiben. Meine Sicht über Autismus war damals positiv und bestärkend. Einige Zeit nach meiner Diagnose musste ich erkennen, dass eine Besserung bei manchen Problematiken nur sehr schwer bis quasi unmöglich zu erreichen ist. Ich fiel nach den anfänglich positiven Emotionen in Trauer und auch Wut über meinen Autismus bzw. unsere Gesellschaft, die für Autisten kaum schädlicher sein könnte. Wir Leben in einem Zeitalter der Schnelllebigkeit, Reizüberflutung und Egozentrik. Wir vergessen zunehmend das Gefühl von Zugehörigkeit und Gegenseitigkeit. Social Media haben Narzissmus salonfähig gemacht. Mittlerweile wächst schon die 2. Generation mit narzisstischen Normen auf. So viele, die danach streben besser, schöner, beliebter, reicher und erfolgreicher als andere zu sein. Autisten liegt es für gewöhnlich nicht im Blut, sich zu inszenieren und in den Mittelpunkt zu stellen, vorausgesetzt es sind keine solche Verhaltensweisen auslösende komorbiden Störungen vorhanden. Es ist vielmehr eine Qual!

Es fiel mir zunehmend schwer, die positiven Aspekte zu sehen. Mit einer negativen Sicht über Autismus kann ich niemandem helfen! Die letzten Jahre habe ich stark an mir gearbeitet und meine Persönlichkeit weiter festigen können. Früher war ich gehemmt und extrem schnell „sozial überfordert“. Heute bin ich ich und stehe für mich ein. Ich sage etwas, wenn ich respektlos behandelt werde und teile meine Meinung mit, wenn ich anderer Meinung bin.

Aus diesem Grund werde ich auch Gedankencocktails reaktivieren. Als Sammlung meiner Gedanken zu Themen, die mich beschäftigen. Durchaus auch mit kontroversen Inhalten. Ich beschäftige mich viel mit „genderkritischem Feminismus“, weiterhin Autimus & AD(H)S und, was mich früher absolut nicht interessierte: Politik!

In mir ist ein riesiger Drang, endlich mal geordnet meine Gedanken aufzuschreiben, weil ich, als sowieso immer schon gesellschaftskritische Person, zunehmend das Gefühl habe, dass wir gesellschaftlich und politisch in vielen Ebenen mit rasanter Geschwindigkeit auf eine Totalkatastrophe zusteuern!

Deswegen beginne ich nun wieder zu schreiben – weil ich nicht mehr schweigen kann!

Einige ältere Beiträge habe ich gelöscht, da ich den Inhalt mittlerweile etwas anders sehe. Ich werde die gelöschten Inhalte überarbeiten und in aktueller Fassung wieder veröffentlichen.

Reanimation von Gedankencocktails

Von Mythen und Vorurteilen – wie die Medien die Realität verfälschen

… und den Leidensdruck unnötig erhöhen

In den Medien wird regelmäßig über AD(H)S berichtet. Allerdings entspricht fast kein Beitrag der Realität. Meist wird ein Kritiker hinzugezogen, der die Existenz der AD(H)S in Frage stellt und sich negativ zum Stimulanzieneinsatz bei Kindern oder auch Erwachsenen äußert. In diesem Zusammenhang wird oft von Betäubungsmittelmissbrauch gesprochen. Die Erklärungsversuche, was AD(H)S überhaupt ist, werden von Außenstehenden mangelhaft recherchiert und sich gerne weit verbreiteter Stigmatisierungen bedient.
AD(H)S wird in der Medizin als psychische Störung eingestuft. Beschäftigt man sich etwas eingehender mit der Thematik, erkennt man schnell, dass es eine Anomalie des Stoffwechsels ist. Ich möchte hier nicht von einer Störung sprechen! Das muss erst bewiesen werden…
Die Glückshormone Dopamin, Serotonin und Noradrenalin werden vom Gehirn nicht auf übliche Weise verarbeitet. Ein zu schneller Abtransport dieser Hormone führt zu einem Mangel (abgesehen von Noradrenalin, welches bei der Hyperaktivität hoch dosiert ist). Es wurde nachgewiesen, dass bei Betroffenen von AD(H)S in den Hirnbereichen, die zuständig für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Motorik sind, mehr Dopamintransporter existieren. Diese Areale sind meist kleiner und weniger aktiv, als bei der Masse der neurotypischen Gehirne. AD(H)S-ler zeigen für Außenstehende oft merkwürdige Reaktionen auf Belohnungen oder Bestrafungen. Zudem ändern sie ihr Verhaltensmuster durch äußerliche Einflüsse nicht. Ein AD(H)S-ler lernt meist nur gering bis gar nicht aus Fehlern. Die Hirnregionen, die für Motivations- und Belohnungsverarbeitungen zuständig sind, weisen bei AD(H)S weniger Rezeptoren (Andockstationen) und Transporter auf. Diese Beeinträchtigung könnte erklären, warum AD(H)S-ler Probleme haben, nicht belohnende Aufgaben zu erledigen, an denen kein persönliches Interesse besteht. Beispielsweise die Aufmerksamkeit bei bestimmten Schulfächern zu halten, die keineswegs mit den persönlichen Fähigkeiten und Interessen übereinstimmen. Ebenfalls könnte es erklären, warum Erwachsene öfter zu Suchtmitteln greifen, um diesen Mangel an Belohnungen und Motivationssteuerung auszugleichen.
Serotonin hingegen ist zuständig für Entspannung. Ein Mangel kann zu Angststörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und innerer Unruhe führen. Noradrenalin ist ein Stresshormon und sorgt für gesteigerte Aktivität (beispielsweise in Gefahrensituationen/ Flucht).
Da bei AD(H)S-lern insbesondere diese drei Hormone, die unser Glücksempfinden steuern, betroffen sind, erklärt sich darin auch die erhöhte Gefahr, an Depressionen zu erkranken.

Durch die andere Verarbeitung des Körpers dieser Botenstoffe, werden weitere Bereiche und Hormone beeinflusst. Dopamin senkt beispielsweise den Prolaktinspiegel, einem Hormon, das zuständig für Empathie und Brutpflege ist. Bei einem Dopaminmangel herrscht also ein erhöhter Prolaktinspiegel und führt zu Sensibilität. AD(H)S-ler sind dafür bekannt, überaus empathisch und feinfühlig zu sein, ebenfalls ist meist eine starke familiäre Bindung und Hilfsbereitschaft vorhanden. Diese Symptome deuten nach meiner Ansicht nicht auf eine Krankheit hin, sondern einem wünschenswerten Zustand, der in unserer Gesellschaft leider Mangelware ist.

In Bezug zur Betäubungsmittelmissbrauchsdiskussion möchte ich an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass bei AD(H)S-lern oft eine paradoxe Wirkung auf bestimmte Arzneimittel besteht. Beruhigende Medikamente können aufputschen und Aufputschmittel beruhigen. Dies ist z.B. bei Narkosen oder lokalen Betäubungen der Fall. Ohne die zusätzliche Gabe von Methylphenidat kann es dazu kommen, dass Betroffene während einer OP aufwachen oder eine lokale Betäubung keinerlei Wirkung zeigt. Zudem führen Schlafmittel oft dazu, dass die Aktivität gesteigert wird.
Ich habe neulich einen RTL-Bericht gesehen, in dem eine Reporterin den Selbstversuch mit Ritalin wagte. Der betreuende Arzt dieses Experiments war ein bekennender AD(H)S-Gegner. Die Reporterin wollte verdeutlichen, welche verheerenden Wirkungen Methylphenidat bei Kindern hat. Da sie kein AD(H)S hat, wirkte das Medikament bei ihr nicht paradox. Sie bekam Herzrasen, stand unter Strom und konnte nicht mehr schlafen. Sie brach das Experiment frühzeitig ab. Mal ganz davon abgesehen, dass für diesen Bericht gegen mehrere Gesetze verstoßen wurde und dem betreuenden Arzt die Approbation entzogen gehört, führen solche Berichte dazu, die Meinung der Allgemeinheit in Bezug auf AD(H)S noch weiter in die falsche Richtung zu festigen. Ich möchte mir gar nicht erst vorstellen, wie viele Eltern nach dem Bericht an ihrer Entscheidung zweifelten, ihrem Kind Methylphenidat zu verabreichen. Meist haben sie diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen und erst als letzten Ausweg gewählt. Zudem haben sie mit enormem Gegenwind aus dem sozialen Umfeld zu kämpfen, wenn dieses erfährt, dass das Kind „unter Drogen gesetzt“ wird. Bisher habe ich in den öffentlichen Medien, die mehrere Millionen Leser/ Zuhörer erreichen, keinen Bericht über die Wirkung von Methylphenidat bei Betroffenen gesehen, der der Wahrheit entspricht. Vielleicht habe ich auch nicht gut genug danach gesucht. Die paradoxe Wirkung des eigentlichen Aufputschmittels wird verheimlicht oder gar nicht erst recherchiert.

Die Vorurteile bei AD(H)S sind immens. So wird nicht selten behauptet, dass es durch falsche Erziehung oder ungesunde Ernährung hervorgerufen wird. Es diene Eltern als Entschuldigung für gravierende Fehler im Umgang mit dem eigenen Kind. Betrachtet man die Häufigkeit von Betroffenen innerhalb einer Familie, wird schnell deutlich, dass es angeboren und genetisch bedingt ist. AD(H)S entsteht nicht erst mit den Erfahrungen, die gesammelt werden. Die Probleme hingegen, die damit einhergehen können, sind in den meisten Fällen gesellschaftlich bedingt. Ich arbeite momentan an einer Vorstellung einer Gemeinschaft, in der AD(H)S-ler die Norm sind. Wie wäre diese Welt? Ich bin mir sicher, sie wäre ein schönerer, friedlicherer Ort, der sich durch Vielfalt und Zusammenhalt auszeichnet.

Die eingefahrene Meinung der Gesellschaft in Bezug auf AD(H)S und die damit verbundene Ausgrenzung führt zu einem Teufelskreis. Betroffene verfügen über einen sehr stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das betrifft nicht nur die eigene Person, sondern gilt auch für andere, sogar unbekannte Personen. Beispielsweise Mitleid für von Naturkatastrophen geschädigte Menschen. Wenn auf der Welt etwas grausames geschieht, sei es Krieg oder eine andere Katastrophe, nimmt es mich oft so sehr mit, dass ich tagelang darauf verzichte Nachrichten zu sehen, weil ich das Leid nicht ertrage. Kurze Berichte zum Gedenken am Jahrestag bringen mich auch noch ein Jahrzehnt später zum weinen.

Was bedeutet es bei den falschen Ansichten über AD(H)S?
Bei falschen Anschuldigungen haben die meisten AD(H)S-ler einen starken Drang dazu, sich zu rechtfertigen, um die Schublade wieder verlassen zu können. Es ist ein Gefühl von Ohnmacht, für etwas verurteilt zu werden, das schlichtweg nicht der Wahrheit entspricht und nur auf mangelndes Einfühlungsvermögen zurückzuführen ist. Beträfe es nur Menschen, die nicht zu meinem sozialen Umfeld gehören, könnte ich damit vielleicht umgehen. Die Meinungen sind aber durch falsche Berichterstattungen so gefestigt, dass es selbst den Freundes- und Familienkreis betrifft. Ich war mein Leben lang im vollen Besitz meiner geistigen Fähigkeiten und in meinem Umfeld dafür bekannt, unkonventionell zu denken und Mauern zu überspringen, gegen die andere immer wieder rennen. Bei Problemen wurde oft mein Rat eingeholt und ich wurde für meine ungewöhnliche Art geschätzt. Welche Probleme mit diesen Besonderheiten einhergehen, haben viele nicht gesehen oder nicht „für voll“ genommen. Als ich mich und meinen Lebensweg durch die Thematik ADS immer besser verstand und auch positive Veränderungen erzielen konnte, ging ich damit offen um. Dadurch habe ich viel verloren, ich würde es dennoch wieder auf die gleiche Weise machen. An mir ist schließlich nichts peinliches oder gefährliches. Ich bin einfach nur anders und um freier leben zu können, muss mein Umfeld von meinen Einschränkungen erfahren. Es bringt mir nichts, mich scheinbar anzupassen, nur um akzeptiert zu werden. Dadurch entfremde ich mich von meiner eigenen Persönlichkeit und lebe in einem Konstrukt, das ein Leben bildet, welches von mir erwartet wird.
Ich erzählte den Personen davon, die mir wichtig waren und von denen ich dachte, dass sie mich kennen würden. Die meisten reagierten ängstlich oder abwehrend. Die wenigsten versuchten es, nach einer Art anfänglicher Schockstarre, zu verstehen. Auch heute, ein Jahr später, gibt es in meinem alten Umfeld niemanden, der es versteht. Nur zwei haben es akzeptiert und sehen mich noch immer, wie früher. Zum einen meine Mutter und zum anderen ein langjähriger Freund aus Jugendzeiten. Ich habe seit meiner Kindheit oft gehört, dass ich eine Gabe hätte, komplexe Dinge verständlich zu erklären. Wenn das zutrifft und ich mich darin von anderen unterscheide, wie ergeht es dann denen, die diese Fähigkeit nicht besitzen? Meine Bemühungen um Akzeptanz meines Verhaltens und meiner Besonderheiten waren bisher nur von geringem Erfolg. Recht früh kam bei mir die Frage auf, ob ich es dabei belassen sollte, dass ich mich verstehe und darüber schweige. Wenn ich aber mein Umfeld nicht meinen Bedürfnissen anpasse, sondern weiterhin versuche meine Bedürfnisse meinem Umfeld anzupassen, kann ich den Weg zum Glück nicht finden. Mittlerweile ist mir relativ egal geworden, was andere über mich denken. Ich weiß, wer ich bin und was mich auszeichnet! Es ist dennoch sehr schwierig, als Außenseiter behandelt zu werden.
Das spiegelt meine eigene Erfahrung wider, jedoch habe ich schon von vielen Betroffenen gehört bzw. gelesen, dass es ihnen ähnlich ergeht.
Vielleicht liegt auch darin der Grund für die einseitige Berichterstattung der Medien. Niemand trägt gerne einen Stempel! Sich öffentlich dazu zu bekennen und für Akzeptanz zu kämpfen, scheint in unserer Gesellschaft ein verlorener Kampf zu sein. Ich bin im Internet öfter darüber gestolpert, dass Interviews von Betroffenen so geschnitten wurden, dass sie in vollkommen falschem Licht ausgestrahlt wurden. Wer so etwas einmal erlebt hat, ist wohl kaum dazu geneigt, einen zweiten Versuch zu starten.
Momentan regt sich eine Art Aufstand von Forschern und Betroffenen, um AD(H)S endlich der Bevölkerung begreifbar zu machen. Ich denke, die nächsten Jahre dürften sehr interessant werden und darüber entscheiden, ob AD(H)S-ler weiterhin als krankhafte Infektion der Gesellschaft gelten oder zu deren Herzstücke werden. Denn die Bereicherungen, die ein AD(H)S-ler für eine Gemeinschaft und das Gemeinwohl bedeuten kann, übertreffen seine Schwächen um ein Vielfaches!

Zum Schluss lehne ich mich noch aus dem Fenster und behaupte, dass es in einer Gesellschaft, die sich auf die Bedürfnisse von AD(H)S-lern einstellt, in vielen Fällen nicht mehr nötig wäre, Methylphenidat zu verabreichen.

Von Mythen und Vorurteilen – wie die Medien die Realität verfälschen

Warum manche Menschen anders sind – die Evolution des Gehirns

Die Neurowissenschaften haben mit Hilfe modernster Techniken gerade erst begonnen, die Komplexität unseres Gehirns zu entschlüsseln.
Die Medizin teilt charakterliche Eigenheiten in Störungsbilder.
Die Gesellschaft gibt vor, was der Norm entspricht.
Das Kollektiv mit „normalen“ Gehirnfunktionen hat sich durchgesetzt und beeinflusst in vielen Bereichen das Leben der „Andersartigen“, dessen Tragweite aber nur wenigen bewusst ist.
Wir sind in einem Zeitalter angekommen, in dem Menschen nach der gesellschaftlichen Definition von Leistungsfähigkeit selektiert werden. Wer durchs Raster fällt, muss sich der Norm anpassen oder gar „geheilt“ werden.
Heutzutage werden Eltern von auffälligen Kindern bereits sehr früh ermutigt, das Verhalten von einem Arzt begutachten zu lassen. Dabei wird oft die Diagnose Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-) Syndrom (AD(H)S) und/ oder Autismus-Spektrums-Störung (ASS) gestellt. Über die explosionsartig steigenden Zahlen dieser Diagnosen wird aktuell sehr stark diskutiert. Die einen meinen, es sei eine Modediagnose, die fast jeder bekommen kann. Die anderen sehen in den Zahlen einen falschen Trugschluss. Die tatsächliche Anzahl derer, die von mindestens einer der „Störungen“ betroffen ist, hat sich nicht verändert. Das Wissen, um diese Störungen jedoch schon. In der Fachwelt erhielten sie erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts allmählich größere Beachtung. Wir können also von neuen „Krankheiten“ sprechen, die aber schon vor ihrer Entdeckung existierten. Ich schließe mich dieser Meinung an.
Anstatt die Diagnosen der Betroffenen anzuzweifeln, sollte die Frage im Vordergrund stehen, warum AD(H)S und ASS eine so große Bedeutung bekommen haben. Die Mehrheit der Betroffenen wünscht sich keine Heilung! Sie kennen die Stärken, die damit verbunden sind. Zur Krankheit wird es erst durch die Gesellschaft, da sich in ihr am deutlichsten die Schwächen zeigen. Wir leben in einer vom Fortschritt getriebenen und rasenden Welt. Die Industrialisierung brachte den Umschwung. Früher war jeder Handwerker selber für die Qualität seiner Ware verantwortlich, sei es der Bäcker oder die Schneiderin. Sie mussten ihr Handwerk bis ins Detail beherrschen und Wert auf Qualität legen. Heutzutage sind es die Maschinen, die für eine konstante Qualität sorgen. Die Arbeitskraft Mensch steht im Duell mit den leblosen Riesen. Es zählt die Quantität und Kosteneffizienz zu steigern. Der Anspruch wird immer größer und die Zahl derer, die dem nicht gerecht werden, ebenfalls. Bei Menschen, deren Schwächen die Quantität senken, werden oft Fähigkeiten übersehen, die von großer Qualität sind.

Die Folgen der Industrialisierung zeichnen sich nicht nur in unserem Umfeld ab, sondern auch in unseren Köpfen. Zeit ist Geld!
Das Überangebot an Sozialkontakten führt zum Werteverlust von Bekanntschaften. Niemand muss alleine sein, wenn er es nicht möchte. Beispielsweise Kontakte über das Internet machen es möglich. Erscheint eine Person oder Beziehung zu kompliziert, wird sie ausgewechselt. Defektes wird weggeworfen, anstatt es zu reparieren, denn Zeit ist kostbar. Wird jemand nicht verstanden, seien es seine Worte oder sein Verhalten, wird er umgangen oder sogar ausgegrenzt. Was der Mensch nicht versteht, das ist ihm unheimlich. Durch diese Entwicklungen gehen einzigartige Menschen unter, deren Schwächen offensichtlich sind, die im Verborgenen jedoch wunderbare Eigenschaften besitzen.
Nimmt man sich die Zeit, um einen solchen Charakter kennenzulernen, wird man ihn auch zu schätzen wissen!

Doch warum sind manche Menschen so anders?
Das Gehirn ist das komplexeste Organ und Zentrum unseres Seins. Es bestimmt unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Verhalten.
Das menschliche Gehirn ermöglichte es, uns zu dem zu entwickeln, was wir jetzt sind. Wesen mit Geist.
Die Evolution des menschlichen Gehirns begann vor drei bis vier Millionen Jahren. Der Mensch ist weder ein geborener Jäger, noch stark in der Verteidigung gegen Raubtiere. Sie konnten ihr Defizite aber durch kognitive Leistungen ausgleichen. Sie entwickelten Waffen, Werkzeuge und eine Sprache durch Laute. Im Zuge dieser zunehmenden Beanspruchung des Gehirns, vergrößerte es sich allmählich. Kaumuskel und Kieferknochen verkleinerten sich, um mehr Platz für das Gehirn zu schaffen und der Schädel wurde größer. Da ein größerer Schädel nicht durch den Geburtskanal passt, reduzierte sich die Dauer der Schwangerschaft allmählich auf 9 Monate. Die Kinder kamen früher und somit mit kleineren Köpfen zur Welt. Dafür verlängerte sich die Zeit der Pflege nach der Geburt. Die Selektion in Bezug auf Hirngröße war so stark, dass verwandte Arten unserer Vorfahren sich nicht weiter entwickeln konnten und ausstarben.
In den vergangenen drei bis vier Millionen Jahren haben sich Masse und Volumen fast vervierfacht.
Obwohl bereits vor etwa 100.000 Jahren unser heutiges Gehirn entwickelt war, blieb der Mensch primitiv. Erst vor ungefähr 40.000 Jahren kam es zu einem markanten Fortschritt, auch kreativer Urknall genannt. Es breiteten sich neue Genvarianten in mehr als 200 Bereichen des Erbguts innerhalb weniger Generationen der frühen Menschheit aus. Eine solch radikale Veränderung hat nur eine Ursache: einen gravierenden Vorteil!
Der menschliche Geist war geboren. Er erlangte die Fähigkeiten des abstrakten Denkens und der Kreativität, rationale Realitätskontrolle und soziale Intelligenz.
Betrachtet man nun die vier auffälligsten Veränderungen zwischen Neandertalern und dem modernen Menschen, werden die Hauptauffälligkeiten von AD(H)S und ASS in ihren Stärken und Schwächen deutlich.
Meist sind abstraktes Denken und Kreativität in beiden Fällen herausragende Stärken.
Rationale Realitätskontrolle, die bewusste und logische Kontrolle über andere Menschen durch Sprache und Denken, ist hingegen geschwächt.
Bei der sozialen Intelligenz unterscheiden sich AD(H)S und ASS gravierend voneinander. Eine Stärke bei AD(H)S ist das Einfühlungsvermögen. Die Hauptcharakteristik von ASS hingegen sind Auffälligkeiten im Sozialkontakt, insbesondere der Empathie.

Und hier beginnt meine Theorie. Ich bin keine Wissenschaftlerin. Es ist meine eigene Meinung, die für mich naheliegendste Vermutung.

Innerhalb eines Stammes oder einer Familie konnten nun individuelle Begabungen zu einem enormen Vorteil werden. Ein besonders abstrakt denkender, kreativer Mensch zog Fortschritt mit sich. Verfügte jemand über eine hervorragende Realitätskontrolle und soziale Intelligenz, konnte er die Gruppe führen. Stark ausgeprägte Sinne, wie es bei AD(H)S und ASS der Fall ist, waren existentiell bei der Jagd. Alles sehr wertvolle Begabungen.
Unsere Hirnkapazität ist begrenzt und hat sich innerhalb der letzten 40.000 Jahre (noch) nicht an das Potenzial der neuen Fähigkeiten angepasst. Der Preis für die Stärke in einer der vier Fähigkeiten scheint die Schwäche in einer anderen zu sein. Früher brachte es gesellschaftlich keinen Nachteil. Jeder leistete seinen Beitrag zum Überleben der Gruppe.
Heute hingegen sind wir Einzelkämpfer. Wir müssen alleine zurecht kommen können. Stärken in den Bereichen sind gern gesehen, Schwächen jedoch werden tabuisiert.
Es gibt so viele Diskussionen und Berichterstattungen über die Krankheiten AD(H)S und ASS aus der Sicht von Außenstehenden. Allerdings nur wenige über die Stärken als Chance aus der Sicht von Betroffenen. In der Politik wird über Integration gesprochen. Die Schwächen sollen angeglichen bzw. ausgeglichen werden. Das ist der falsche Ansatz! Es konzentriert sich wieder nur auf die Schwächen. Der Schlüssel liegt in der Inklusion: das Fördern von individuellen Stärken und die Akzeptanz von andersartigem Verhalten. Wir sind genauso Mensch und Individuum, wie jeder andere auch. Wir haben eine andere Wahrnehmung und damit ein anderes Verständnis der Welt. Weswegen wir uns anders verhalten und anders denken. Das macht uns aber nicht zu schlechteren Menschen.
Es gibt nicht die eine, richtige Form, wie der Mensch wahrzunehmen hat. Jede Variante ist so menschlich, wie die andere. Es hat sich nur die Masse der „ausbalancierten“ Gehirne durchgesetzt und die Umwelt der „genormten“ Wahrnehmung angepasst. Sei es AD(H)S oder ASS, bei beiden kommt es zu Reizüberflutungen durch die sie umgebende bunte, rasende und überfüllte Welt. Immer mehr Menschen müssen vom Land in die Stadt ziehen, weil es dort keine Arbeit für sie gibt. Nicht jeder kommt mit der Stadt zurecht. Es gibt Menschen, die extrem viel Ruhe brauchen. Es kann auch nicht jeder in das gesellschaftliche Bild gequetscht werden.
Wir könnten uns schon im Zeitalter der Individualität befinden. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben. Ein breites Angebot an unterschiedlichsten Waren, die Technik als Optimierung unserer täglichen Abläufe, das Internet als Lehrer oder Arbeitgeber. Es ist aber noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen, dass Individualität nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen beeinflusst. Schwächen werden reguros verschlossen gehalten, damit sie bloß niemand erkennt. Die Schamgesellschaft, der alles peinlich ist, was nicht normal erscheint. Ein Irrweg, der nicht zur freien Entfaltung des Charakters führen kann.
Betrachtet man die Symptome von AD(H)S und ASS erkennt sich jeder ein Stück weit darin.
Aber was ist schon normal?
Vielleicht war die heutige Norm damals eine Ausnahme. Führungskräfte bedarf es nur begrenzt innerhalb eines Stammes und insbesondere eine Stärke in der bewussten Kontrolle über andere Menschen erscheint mir nicht unbedingt als Gabe. Es ist der Grundstein für Manipulationen der Persönlichkeit, des Denkens anderer. Eine durchaus gefährliche Waffe…

Warum manche Menschen anders sind – die Evolution des Gehirns